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Heinz Winbeck
NAIVITÄT UND BEWUSSTSEIN
oder
„Das Zappeln im Rad der Zeit“
– eine Auseinandersetzung mit der Musikauffassung
Johann Heinrich Wackenroders und Theodor W. Adornos –
Vortrag anläßlich der Semestereröffnungsfeier der Hochschule für Musik Würzburg
am 7. November 1989
Liebe Studentinnen und Studenten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! *
Es pflegen sich im Rahmen dieser Feier neuberufene Professoren in dem jeweils ihnen eigenen Metier vorzustellen: der Streicher streicht, der Bläser bläst, der Sänger singt,
…..
der Komponist redet!
Haben sich Komponisten zu Rhetorikspezialisten, zu Federfuchsern, gar zu Ideologen entwickelt in einer Gesellschaft, in der wahrhaft genug geredet und geschrieben wird? Sollte ihr Beitrag nicht eher ein Gegengewicht hierzu bilden? Ja, sind sie überhaupt kompetent, aufzutreten auf einem Gebiet, das garnicht das ihre ist, daß, wäre es das ihre, sie womöglich niemals Komponisten geworden wären? Ich für meine Person kann es jedenfalls behaupten, hätte ich auch nur über das „Mundwerk“ eines durchschnittlichen Jugendlichen von heute verfügt. Welcher Anlaß bestünde auch, komplexe Partituren zu schreiben, wenn man ohnedies alles nach außen bringen kann, was man will?
Dennoch hat es nicht mit übler Nachstellung von Irgendjemandem, gar eines Präsidenten einer Musikhochschule zu tun, wenn der Komponist reden muß, schon eher mit der Diagnose Adornos:
„Was musikalisch heute überhaupt sich zuträgt, hat den Charakter des Problems in der unverwässerten Bedeutung des Wortes: den einer zu lösenden Aufgabe…“.
Und da für meinen Vorgänger im Amt, den verehrten Prof. Bertold Hummel, auch in seiner Funktion als Präsident dieses Hauses die Kompositionsklasse das Salz in der Suppe einer Musikhochschule war, möchte ich nun, wenn auch mit einem Jahr Verspätung, Farbe bekennen, welches Salz ich zu benutzen gedenke.
Fromme Juden pflegen an Pascha einen Brauch: sie nehmen ein Schlückchen Salzwasser zu sich in Erinnerung an die Tränen der Verbannung und der Zwangsarbeit – Sie, die Sie vor mir sitzen und guten fränkischen Wein gewohnt sind, nehmen Sie dennoch im Geiste, symbolisch, so ein Schlückchen zu sich, um für kommendes Unbill gerüstet zu sein.
Ich möchte zu Beginn meiner Rede an eine andere anknüpfen, die vermutlich viele von Ihnen gehört haben: die – von Maximilian Schell vorgetragene – Dankesrede von Vaclav Havel anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 15. Oktober in der Frankfurter Paulskirche über die MACHT DES WORTES. Diese beeindruckende Rede fortsetzen zu wollen liegt mir fern, aber da sie uns allen noch in den Ohren klingt, möchte ich Sie fragen, ob Sie sich auch nur entfernt Vergleichbares in Übertragung auf die Sprache der Musik vorstellen könnten? Es ging um die ganze Generationen in Bewegung setzende Ausstrahlungskraft sprachlicher Begriffe, ihre ambivalente Natur als „Lichtblitz“ wie als „Todespfeil“, um die Moral verantwortlichen, d.h. dies reflektierenden Sprechens, ja gar um „Hochmut“ wie „Demut“ von Begriffen… Merkwürdig, niemand käme auf die Idee, bei aller – nicht zuletzt wirtschaftlicher Macht des Musikbetriebs, in dieser klaren und verbindlichen Weise über Musik zu sprechen; und doch spüren wir, wenn wir ehrlich sind, daß es bei aller Andersartigkeit von Sprache auch hier Vergleichbares gibt, nur überdeckt von einem Supermarkt an Möglichkeiten, von denen so manche eher an Ratschlägen geschickter Verkaufs-Strategen orientiert zu sein scheinen als an Überlegungen bezüglich „Hochmut“ oder „Demut“ eines Klanges, einer Komposition.
Unweigerlich führt uns diese Denkspur zur Grundfrage: welchen Kriterien war und ist das musikalische Kunstwerk verpflichtet? Sucht der Mensch in ihm sich selbst oder womöglich die Korrektur seines Wesens, gar die Erlösung ' seiner selbst? Und wie konnte es bis dahin kommen, daß beim Erklingen irgendeines „Mißtons“ ganz sicher irgend jemand mit wissendem Lächeln konstatiert: Aha – ein Neutöner!
Auf meiner Materialsuche stieß ich beim Studium nicht nur der einschlägigen Werke von Busoni, Strawinski, Henze etc., sondern auch von Musikfestivals notorisch begleitenden weisen Worten von Musikwissenschaftlern und Komponisten – z.Bsp. zu den umstrittenen Begriffen „Avantgarde“ und „Postmoderne“ anläßlich „Revolution in der Musik“ in Kassel – selten auf Gold.
Natürlich geben einem die apokalyptischen Sirenen-Gesänge etwa eines Heinz-Klaus Metzger zu denken: „…Komponieren als bestimmte Negation wäre … die Aufhebung all dessen, was je als Musik begriffen ward. Denn im Angesicht des industriell produzierten Weltendes ist nur die Musik, die keine Musik mehr ist, noch Musik; während die Musik, die noch Musik ist, keine Musik mehr ist.“
Was steigt da hoch aus der Erinnerung der 70er Jahre? „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Während ich diesen Satz als Aussageversuch einer Negativen Theologie verstehen kann, bleibt mir die „negative Musikologie“ verdächtig. Allmählich gefiel mir da schon am besten, wie Heinz Holliger, im Bedauern,daß ältere Komponisten „stumm wie Fische“ geblieben seien, Hölderlin zitiert:
„Je stiller, desto mehr Äußerung“, so daß Heinz Winbeck, Heinz Holliger zitierend, welcher Hölderlin „Je stiller, desto mehr Äußerung“ zitiert, hiermit die kaum begonnene Rede auch gleich beenden könnte!
Da dies aber kaum im Sinn dieser Veranstaltung wäre, wenn es auch dem einen oder anderen Zuhörer Freude bereiten würde, lassen Sie mich nun auf die beiden Autoren kommen, bei denen ich fündig wurde und die nur auf den ersten Blick so gar nichts miteinander zu tun zu haben scheinen: der eine, Wilhelm Heinrich Wackenroder, geistiger Wegbereiter der Frühromantik, der andere, Theodor W. Adorno der der 68er Studentenrebellion!
Ich beginne mit der Musikauffassung Wilhelm Heinrich Wackenroders, dessen Leben von 1773 bis 1798 kaum 25 Jahre währte. Er hat diese in einem Aufsatz „Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimnisvoller Kraft“, in der Musikernovelle „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger“, aber auch in einem kleinen, eigentümlich modern wirkenden „Wunderbaren Märchen von einem nackten Heiligen“ bildhaft dargestellt. Warum modern? Für diesen „Heiligen“, von dem Wackenroder selbst sagt, daß wir ihn wahnsinnig, die Orientalen aber für „das wunderliche Behältnis eines höheren Genius“ halten würden, ist nämlich das Phänomen Zeit keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern:
„Dieses wunderliche Geschöpf hatte in seinem Aufenthalte Tag und Nacht keine Ruhe, ihm dünkte immer, er höre unaufhörlich in seinen Ohren das Rad der Zeit seinen sausenden Umschwung nehmen. Er konnte vor dem Getöse nichts tun, nichts vornehmen, die gewaltige Angst, die ihn in immerwährender Arbeit anstrengte, verhinderte ihn, irgend etwas zu sehn und zu hören, als wie sich mit Brausen, mit gewaltigem Sturmwindssausen das fürchterliche Rad drehte und wieder drehte, das bis an die Sterne und hinüberreichte. Wie ein Wasserfall von tausend und aber tausend brüllenden Strömen, die vom Himmel herunterstürzten, sich ewig, ewig ohne augenblicklichen Stillstand, ohne die Ruhe einer Sekunde ergossen, so tönte es in seine Ohren, und alle seine Sinne waren mächtig nur darauf hingewandt, seine arbeitende Angst war immer mehr und mehr in den Strudel der wilden Verwirrung ergriffen und hineingerissen, immer ungeheurer verwilderten die einförmigen Töne durcheinander: er konnte nun nicht ruhn, sondern man sah ihn Tag und Nacht in der angestrengtesten, heftigsten Bewegung, wie eines Menschen, der bemüht ist, ein ungeheures Rad umzudrehen. Aus seinen abgebrochenen, wilden Reden erfuhr man, daß er sich von dem Rade fortgezogen fühle, daß er dem tobenden, pfeilschnellen Umschwunge mit der ganzen Anstrengung seines Körpers zu Hülfe kommen wolle, damit die Zeit ja nicht in die Gefahr komme, nur einen Augenblick stillzustehn. Wenn man ihn fragte, was er tue, so schrie er wie in einem Krampf die Worte heraus: Ihr Unglückseligen! hört ihr denn nicht das rauschende Rad der Zeit? und dann drehte und arbeitete er wieder noch heftiger, daß sein Schweiß auf die Erde floß, und mit verzerrten Gebärden legte er die Hand auf sein pochendes Herz, als wolle er fühlen, ob das große Räderwerk in seinem ewigen Gange sei.“
Meine sehr verehrten Damen und Herrn, falls Ihnen womöglich auf Grund der Länge des Zitats der schreckliche Verdacht gekommen sein sollte, daß der Zustand dieses Beklagenswerten irgendetwas mit der Befindlichkeit von uns Komponisten zu tun haben sollte, dann – liegen Sie richtig! Ich frage Sie nur, meine verehrten Zuhörer: warum wird dieser Mann, von dem es ein wenig später heißt, daß er durchaus auch gefährlich werden kann, nicht in Gewahrsam gesetzt? Die Antwort kann ich nur vermuten: weil die ehrfürchtigen Betrachter in ihrem Innern ahnen, daß er dieses „Rad der Zeit“, dessen „sausenden Umschwung“ sie nicht vernehmen, doch für sie dreht, daß seine „arbeitende Angst“ verborgen auch in ihnen pocht und daß auch für sie etwas dabei abfällt, wenn er diesen merkwürdigen Kampf besteht. Das gelingt zunächst nicht, die Mondscheinnacht, d.h.die Naturstimmung aller aufgelösten Grenzen, bringt nur eine vorübergehende Beruhigung und einen um so schlimmeren Rückfall:
„… wenn der Mond auf einmal vor die Öffnung seiner finstern Höhle trat, hielt er plötzlich inne, sank auf den Boden, warf sich umher und winselte vor Verzweiflung; auch weinte er bitterlich wie ein Kind, daß das Sausen des mächtigen Zeitrades ihm nicht Ruhe lasse, irgend etwas auf Erden zu tun, zu handeln, zu wirken und zu schaffen. Dann fühlte er eine verzehrende Sehnsucht nach unbekannten schönen Dingen; er bemühte sich, sich aufzurichten und Hände und Füße in eine sanfte und ruhige Bewegung zu bringen, aber vergeblich! Er suchte etwas Bestimmtes, Unbekanntes, was er ergreifen und woran er sich hängen wollte; er wollte sich außerhalb oder in sich vor sich selber retten, aber vergeblich! Sein Weinen und seine Verzweiflung stieg aufs höchste, mit lautem BrülIen sprang er von der Erde auf und drehte wieder an dem gewaltig-sausenden Rade der Zeit.“
Die Leiden dieses Mannes finden erst ihr Ende, als zwei neue Komponenten die bloße Naturstimmung verdichten und verwandeln: ihr in der menschlichen Liebe ein Gesicht und im menschlichen Gesang Klang verleihen. Der befreite Genius des armen Nackten transformiert und erhebt sich zu den klingenden Sphären: „Reisende Karawanen sahen erstaunend die nächtliche Wundererscheinung, und die Liebenden wähnten, den Genius der Liebe der Musik zu erblicken.“
„Love and music“ – die eskapistische Utopie der sogen. Jugendkultur des 20. Jahrhunderts, die als vielleicht erfolgreichste „Halb- oder Scheinideologie“ nach dem Westen nun auch den Osten überschwemmt: ist es das, was Wackenroder gemeint hat? Wohl kaum. Sein ‚Joseph Berglinger‘ ist Stammvater aller Komponistengestalten in der Deutschen Literatur bis hin zu ‚Adrian Leverkühn‘ – alias Nietzsche-Schönberg – an dessen Figur Adorno bekanntlich in der Emigration in Los Angeles kräftig mitgearbeitet hat! Auf die Tatsache, daß Thomas Mann nicht zufällig die Gestalt des einsam ringenden Komponisten als Symbolfigur deutscherTragik und Dämonie geformt hat, muß ich wohl hier nicht näher eingehen. Wackenroders vergleichsweise schlichte Titelgestalt beweist jedenfalls durch ihr Scheitern, daß weder ein genüßlich-primitives Mitstampfen im Rad der Zeit, sei es nach Discomanier, noch ein sich Retten in eine angeblich heile Abonnementkonzert-Erlösungswelt für ihn als Komponisten in Frage kommt. In seinem Untergang leuchtet aber auf – und mit dieser Dialektik sind wir schon ganz nahe an Adorno – daß jenseits der „bequemen“ Wege ein Drittes offengehalten werden muß.
Woran also scheitert dieser junge Komponist? Er, der aus der Enge drückender nur vom Pflichtbegriff geprägter typisch norddeutscher Achtzehnter-Jahrhunderts-Verhältnisse kommt, er findet zunächst durch den Wechsel in eine „bischöfliche Residenz“ des Südens in der Welt der Musik eine unermeßliche Horizont- und Gefühlserweiterung. Aber die Problematik geht aus einer Art Lebensbilanz in Form eines Abschiedsbriefes, einer messerscharfen Selbstanalyse des wie sein Autor Frühverstorbenen klar hervor. Die drei für ihn nicht auflösbaren Spannungszustände sind:
1. die Diskrepanz zwischen „EMPFINDUNG“ und „MECHANIK“, eine Gegensatzspannung, die wir heute mit den Begriffen NAIVITÄT UND BEWUßTSEIN wohl adäquat wiedergeben. Der junge Komponist beschreibt das Hauptproblem seines Studiums so:
„Wenn ich an die Träume meiner Jugend zurückdenke, wie ich in diesen Träumen so selig war! – Ich meinte, ich wollte in einem fort umherphantasieren und mein volles Herz in Kunstwerken auslassen, – aber wie fremd und herbe kamen mir gleich die ersten Lehrjahre an! Wie war mir zumut, als ich hinter den Vorhang trat! Daß alle Melodien, (hatten sie auch die heterogensten und oft die wunderbarsten Empfindungen in mir erzeugt,) alle sich nun auf einem einzigen, zwingenden mathematischen Gesetze gründeten! Daß ich, statt frei zu fliegen, erst lernen mußte, in dem unbehülflichen Gerüst und Käfig der Kunstgrammatik herumzuklettern! Wie ich mich quälen mußte, erst mit dem gemeinen wissenschaftlichen Maschinenverstande ein regelrechtes Ding herauszubringen, eh ich dran denken konnte, mein Gefühl mit den Tönen zu handhaben! – Es war eine mühselige Mechanik.“
In der Spannung zwischen dem musikalischem Einfall und der „Mechanik“ dessen,„wie man’s macht“ wird zugleich das menschlicher Existenz eingestiftete Problem ZEIT wieder schmerzlich in der auszutragenden Antinomie zwischen Augenblick und Dauer spürbar, aber zugleich das zwischen Intuition und „Handwerk“, der geistigen und der materiellen Seite des Kunstwerks, wovon bei Adorno noch zu reden sein wird.Erwarte keiner, daß dieses Problem nur eines des Studiums sei und sich mit dem Examen erledige! Und mißtraue jeder jedem, der vorgibt, einen Schlüssel zur Lösung dieses Problems – und sei es mit Hilfe neuer und neuester technischer Möglichkeiten – gefunden zu haben!
2. Die Diskrepanz zwischen KUNST UND GESELLSCHAFT. Ich glaube, es wird Ihnen nicht schwer fallen, die Erfahrungen unseres Protagonisten in eine Gegenwart zu übersetzen, in der sich hier Beschriebenes nur einerseits kolossal zugespitzt, andrerseits verlagert oder verborgen hat:
„Was ich als Knabe in dem großen Konzertsaal für glückliche Stunden genoß! Wenn ich still und unbemerkt im Winkel saß, und all die Pracht und Herrlichkeit mich bezauberte, und ich so sehnlich wünschte, daß sich doch einst um meiner Werke willen diese Zuhörer versammeln, ihr Gefühl mir hingeben möchten! –
Nun sitz' ich gar oft in ebendiesem Saal, und führe, auch meine Werke auf; aber es ist mir wahrlich sehr anders zumute. — Daß ich mir einbilden konnte, diese in Gold und Seide stolzierende Zuhörerschaft käme zusammen, um ein Kunstwerk zu genießen, um ihr Herz zu erwärmen, ihre Empfindung dem Künstler darzubringen! …
Freilich ist der Gedanke ein wenig tröstend, daß vielleicht in irgendeinem kleinen Winkel von Deutschland, wohin dies oder jenes von meiner Hand, wenn auch lange nach meinem Tode, einmal hinkommt, ein oder der andre Mensch lebt, in den der Himmel eine solche Sympathie zu meiner Seele gelegt hat, daß er aus meinen Melodien grade das herausfühlt, was ich beim Niederschreiben empfand, und was ich so gern hineinlegen wollte. Eine schöne Idee, womit man sich eine Zeitlang wohl angenehm täuschen kann! –
Allein das Allerabscheulichste sind noch alle die andern Verhältnisse, worin der Künstler eingestrickt wird. Von allen dem ekelhaften Neid und hämischen Wesen, von allen den widrig-kleinlichen Sitten und Begegnungen, von aller der Subordination der Kunst unter den Willen des Hofes; – es widersteht mir ein Wort davon zu reden, – es ist alles so unwürdig und die menschliche Seele so erniedrigend, daß ich nicht eine Silbe davon über die Zunge bringen kann. Ein dreifaches Unglück für die Musik, daß bei dieser Kunst grade so eine Menge Hände nötig sind, damit das Werk nur existiert! Ich sammle und erhebe meine ganze Seele, um ein großes Werk zustande zu bringen; – und hundert empfindungslose und leere Köpfe reden mit ein, und verlangen dieses und jenes.“
Es ist jedoch keineswegs die Verherrlichung einer einsamen Künstlerpersönlichkeit auf Kosten sog. „gewöhnlicher“ Menschen, die Wackenroder anstrebt, im Gegenteil, Berglinger leidet nicht weniger an der „Aufgeblasenheit“ erfolgreicher Kollegen und beteuert: „Wahrhaftig, die Kunst ist es, was man verehren muß, nicht den Künstler.“ Den Todesstoß bekommt dieses „schwache Instrument“ letztendlich versetzt von der dritten, bittersten aller Antinomien:
3. der zwischen KUNST UND MORAL bzw. VERANTWORTUNG im menschlichen Bereich. Am Totenbett seines Vaters, der aus seinem Sohn vergeblich einen Helfer der Menschheit und etwas vernünftig Sinnvolles, einen Arzt hätte machen wollen angesichts der verkommenen Geschwister, die er mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen hat, erfährt seine Lebensenergie einen Aderlaß, von dem er sich nicht mehr erholt. Aber er holt zu einer letzten Anstrengung aus:
„Er sollte zu dem bevorstehenden Osterfest eine neue Passionsmusik machen, auf welche seine neidischen Nebenbuhler sehr begierig waren. Helle Ströme von Tränen brachen ihm aber hervor, so oft er sich zur Arbeit niedersetzen wollte; er konnte sich vor seinem zerrissenen Herzen nicht erretten. Es lag tief daniedergedrückt und vergraben unter den Schlacken dieser Erde. Endlich riß er sich mit Gewalt auf, und streckte mit dem heißesten Verlangen die Arme zum Himmel empor; er füllte seinen Geist mit der höchsten Poesie, mit lautem, jauchzendem Gesange an, und schrieb in einer wunderbaren Begeisterung, aber immer unter heftigen Gemütsbewegungen, eine Passionsmusik nieder, die mit ihren durch-dringenden, und alle Schmerzen des Leidens in sich fassenden Melodien ewig ein Meisterstück bleiben wird. Seine Seele war wie ein Kranker, der in einem wunderbaren Paroxismus größere Stärke als ein Gesunder zeigt.
Aber nachdem er das Oratorium am heiligen Tage im Dom mit der heftigsten Anspannung und Erhitzung aufgeführt hatte, fühlte er sich ganz matt und erschlafft. Eine Nervenschwäche befiel, gleich einem bösen Tau, alle seine Fibern; —
er kränkelte eine Zeitlang hin und starb nicht lange darauf in der Blüte seiner Jahre.“
Ich habe den Worten Wackenroders nur noch wenig hinzuzufügen. Sie haben sicher verstanden, warum ich ihnen so viel Raum gegeben habe: wir tun uns heute schwer, diese Zusammenhänge zugleich so natürlich und präzise, so „naiv“ und „bewußt“ auszudrücken. Ich möchte nur die Frage stellen: Sind wir vielleicht deshalb schon seit einiger Zeit dabei, das romantische Kunstideal als abgestorben zu betrachten, es mit einem zynisch mitleidigem Lächeln ad acta zu legen, weil wir damit den hier aufgezeigten Antinomien zu entgehen glauben? Sind diese aber nicht womöglich grundsätzlich mit der conditio humana verbunden, sodaß, dem auszuweichen, bedeuten würde, daß der Künstler zum autistischen Spieler wird, dem es unter Zuhilfenahme seiner Ellbogen gelungen ist, für seine Selbstdarstellung ein paar Meter auf der Spielwiese des Kulturbetriebs zu besetzen? Welcher Zusammenhang existiert zwischen diesem SICH Aussetzen, diesem Menschenbild und dem Niveau, der Qualität der in dieser Zeit entstandenen Musik?
Damit Sie aber nicht glauben, hier würde einer wehmütigen Retrospektive das Wort geredet, wenden wir uns nun dem Alban-Berg-Schüler, Komponisten, Musiktheoretiker, Philosophen und markantesten Vertreter der sog. „Frankfurter Schule“ zu, welche bekanntlich die bundesrepublikanische Wirklichkeit einer kritischen Analyse unterzog, Theodor W. Adorno. Für rechte Kreise war sein Name bis noch vor kurzem das buchstäbliche „rote Tuch“, Synonym für alle Gefahren, die man mit dem Wort „Umsturz“ verband. Die von ihm aufgeweckten revolutionären Studenten wiederum konnten über ihren Lehrer nur noch den Kopf schütteln, als dieser etwa an Hand eines Eichendorff-Gedichtes daranging, seinen Kunstbegriff gegenüber dieser neuen Variante kultureller Barbarei zu verteidigen. Interessanterweise wird auch heute noch – 20 Jahre nach Adornos Tod, sein Name als Zankapfel besonders gerne benutzt – wobei ich mir nicht so ganz sicher bin, ob diejenigen, die sich mit Vorliebe auf ihn berufen, von ihm als seine „Erben“ auch anerkannt würden. Doch machen Sie sich dazu selbst Ihr Bild, ich möchte Ihnen gleich Gelegenheit dazu geben. Lassen Sie mich nur zuvor eine Antwort-Variante zur Frage „Wer war Theodor W. Adorno?“ ergänzen, die sich ganz sicher noch in keinem Feuilleton gedruckt findet, weil ich sie selbst erlebt habe:
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